Geschichte des Fahrrads | Quellenpaket A

Die Quellen gehören zum Modul Geschichte des Fahrrads

 

Die Verbreitung und Auswirkungen des Radfahrens 

Quelle 1 | Balduin Groller: Vom Radfahren, in: Die Gartenlaube, Jg 1886, Nr. 7, S. 129 | Public Domain, Wikisource (Text und Faksimile, Bild anklicken)

Das anfänglich viel bespöttelte Reitrad ist auf dem besten Wege, sich eine Art Weltherrschaft zu erobern. In allen Ländern wendet sich die Jugend dem Radfahrsport mit ganz besonderer Vorliebe zu, und wenn die Ausbreitung, welche diese Liebhaberei in den letzten zehn Jahren gewonnen, noch eine Weile in demselben Maße Fortschritte macht, so wird es bald kaum eine Stadt mehr geben, in der sich nicht mindestens ein Radfahrer-Klub aufgethan hätte. Die Erfahrungen, welche die bisherige Pflege der Radfahrkunst geboten hat, kommen dieser selbst auch wesentlich zu statten. Es hat sich gezeigt, daß dieser Sport ganz vortrefflich geeignet ist, die körperliche Gewandtheit bei Jenen, die sich ihm widmen, zu entwickeln, und daß er dabei verhältnißmäßig wenig gefährlich ist. So eine Fahrt auf dem windigen, schmalen, schlanken und graziösen Vehikel sieht sich viel halsbrecherischer an, als sie in Wirklichkeit ist. Jeder rechte Junge, der kein Hasenfuß ist und der auch bei anderen körperlichen Uebungen nur halbwegs seinen Mann stellt, kann schon nach wenigen Stunden, sehr oft sogar nach einer einzigen Uebungsstunde schon ein leidlich sattelfester Radfahrer werden. Und dann steht ihm die Welt offen! […]

 

Quelle 2 | Bob [nähere Angaben zum Autor fehlen]: All Heil!, in: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, Nr. 26 (1896), S. 414-418 | Heidelberger historische Bestände digital | Einige Begriffe werden in eckigen Klammern erläutert.

Die Welt steht im Zeichen des Zweirads! Es ist ein Massenwahnsinn ohne Gleichen über die Menschen gekommen. […]

Frägt man heute einen Menschen —Mann oder Weib — zwischen 10 und 95 Jahren, ob er Zweirad fahre, so bekommt man zur Antwort: „Natürlich !“ Nicht einmal „Ja!“ — sondern „Natürlich!“ […]

Da schleicht er hin, als wär‘ er plötzlich splitternackt vor den Augen eines verehrten Publikums — gedrückt, blass oder roth in seines Nichts durchbohrendem Gefühle —

Der letzte Fussgänger!

Für heute mag diese Momentaufnahme noch wie eine kleine Uebertreibung aussehen; aber wartet nur — in drei Jahren! Heute sind die Leute, die nicht auf dem Zweirad fahren, schon schneller gezählt, als die, welche radeln. […]

Es wäre ein Thema, würdig einer Doktordissertation, die Gründe darzulegen, welche die sündfluthartige Ausbreitung des Radfahrens veranlassten.

Da ist erstens der Nachahmungstrieb, den der Mensch nach den bekannten Grundsätzen für die Entwicklung der Arten nicht gestohlen hat und der bei allen andern epidemisch auftretenden Liebhabereien ja auch immer in erster Linie massgebend gewesen ist.

Dann die liebe Eitelkeit, sehr stark bestimmend für Frauen und Männer. Für die Ersteren erschliesst das Radeln ein ganz neues Toilettengebiet [meint hier: Bekleidung], es leiht den von der Natur hiezu Begnadeten Gelegenheit, in durchaus ehrbarer Weise Reize zu enthüllen, die sonst ängstlich unter den Falten des Glockenrockes verborgen bleiben, es ist überhaupt ein neues wirksames Mittel, „gesehen zu werden“ und es gibt schliesslich wieder einmal eine prächtige Veranlassung, den Herren der Schöpfung zu zeigen, dass sie Nichts für sich allein haben sollen. Ein besonders schneidiger Haudegen des Frauenemancipationsheeres hat das Radeln schon darum warm empfohlen, weil es dem schönen Geschlechte in die Hosen und damit der ganzen Bewegung auf die Strümpfe helfe. […]

Kein Wunder also, dass dieser [der Fahrradsport] jede Alters- und Gesellschaftsklasse für sich eingenommen hat. Im Boudoir [Besuchszimmer] und am Biertisch, im Bureau und beim Mahle spricht man von nichts Anderem als vom Fahrrad. Früher schwatzte man vom Wetter, vom Theater, von Toiletten, von gesellschaftlichen Scandalen — heute spricht man von Rekords und Strassenzuständen, von Touren, Rennen, Stürzen, man lästert über die Waden der Andern, man erörtert die Vorzüge der verschiedenen Fabrikate und dabei stellt es sich dann heraus, dass Jeder eine Maschine des allerbesten Systems fährt. […]

Die vollkommene, ideale Ausbreitung des Zweiradfahrens wird in den Städten allerdings noch immer in beklagenswerther Weise aufgehalten durch Fussgänger und Wagen. Hier muss gründlich Remedur geschaffen [ein Missstand beseitigt] werden und sie wäre leicht zu schaffen — man brauchte nur Pferde und Nichtradler auf’s Trottoir [Bürgersteig] zu beschränken und die Strassen dem Stahlross freizuhalten. Statt dessen benachtheiligt man heutzutage in jeder Weise noch den Radler und im Polizeibureau einer mittelgrossen Stadt werden täglich einige Diurnisten [Verwaltungsmitarbeiter] rein aufgebraucht durch Ueberanstrengung beim Ausfertigen von Strafmandaten wegen Uebertretung der Fahrvorschriften.

 

Bildquellen | In der Textquelle 2 wird von hosentragenden Radfahrerinnen berichtet. Dass Frauen um 1900 Hosen trugen, galt damals noch als sehr ungewöhnlich. Die um die Jahrhundertwende üblichen Radfahrhosen für Frauen waren noch sehr weit geschnitten. | Linke Seite: Alfred Roller: Entwurf für ein Werbeplakat „Belbif Fahrrad“, 1898 | Bildnachweis: Public Domain, Wikipedia | Rechte Seite: Jules Beau. Photographie sportive, 18894/95 (Ausschnitt) | Bildnachweis: Public Domain, Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle 3 | Hermann Ortloff: Das Radfahren im öffentlichen Verkehr, Jena 1899, S. 5f.| Public Domain, SLUB (Sächsische Landesbibliothek) Faksimile, Bild anklicken)

Der Fussgänger hat in dem Fahrrad ein Mittel erhalten, das er durch eigenen Betrieb mittels der Gehwerkzeuge und seiner Arme und Hände zur Verkürzung von ihm sonst weit und langwierig erscheinenden Wegestrecken verwenden kann; frei, nach seinem Gutdünken beherrscht er seine Maschine, die ihn einem Vogel gleich durch die Lüfte dahin trägt, immerhin aber gebannt an die Erde durch die eiligste Berührung dieser mit den Räderpunkten des nur auf solchen balancierenden Luft- oder Pneumatikreifens.

Das Fahrrad ist eine der bedeutendsten Erfindungen kunstreicher Art und die Technik kann darin einen ihrer grössten Triumphe feiern. Schon ist das unförmige und unschöne Hochrad dem eleganten und sicheren Rover, auch das schwerfällige Dreirad, mehr einem Wägelchen ähnlich, dem Zweirad unterlegen […].

Die wie Pilze aus der Erde geschossenen Fahrzeugfabriken für Fahrräder und Automobilen arbeiten unaufhörlich mit einer Hast, als solle das ganze Fussgängertum sich in eine Radfahrerwelt verwandeln. Die Händler überbieten sich in Anpreisungen der Fabrikate aus aller Herren Länder, Export und Import suchen sich zu bekämpfen, die buntesten Anzeigen, oft auch mit lächerlichen und hässlichen Reklamebildern, drängen sich den auf den Strassen Passierenden überall entgegen, die Zeitungs-Inseratenteile strotzen von Anpreisungen mit oder ohne Bildnisse, Witzblätter bringen belustigende Illustrationen und eine umfangreiche Litteratur in Fach- und Sportschriften und Bundes- und Sondervereinsorganen der radelnden Welt in Zeitungsgestalten legen Zeugnis davon ab, dass das Radfahren eine Verkehrsmacht geworden ist, mit der nicht bloss die Konkurrenzen anderer Transportmittel, wie bespannte Personen- und Frachtfuhrwerke aller Art (auf Strassen, auf Schienen), von Menschen geschobene und gezogene Karren, Reiter u. dgl. [und dergleichen], sondern ganz besonders die Fussgänger zu rechnen haben, und zwar am meisten in den Ortschaften und hier wieder in den an Verkehr belebtesten Teilen.

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