Mord verjährt nicht!? | Quellen

Die Quellen gehören zum Modul Mord verjährt nicht

 

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Reden aus der Bundestagsdebatte vom 10. März 1965

 

Quelle 1 | CDU-Bundestagsabgeordneter Ernst Benda (1925-2009)

Ich sehe mich […] nicht in der Lage — und ich bekenne das offen — in dieser Sache ohne Leidenschaft zu diskutieren. Ich meine, dass das eben angeführte Wort Leidenschaft in seinem wesentlichen Wortsinn gebraucht werden muss: wir leiden! Wir leiden unter dieser Frage, meine Damen und Herren, und mit uns leidet das ganze deutsche Volk. Wir müssen versuchen, unter Einsatz dieser Leidenschaft zu der richtigen Lösung zu kommen.  […] Danach scheint mir die Folgerung, dass eine Verlängerung oder gar Aufhebung der Verjährung notwendig ist, für jeden zwingend zu sein, der sich nicht damit abfinden will, dass solche schwersten Verbrechen ungesühnt bleiben müssen. […]

Für die Antragsteller steht über allen Erwägungen juristischer Art ganz einfach die Erwägung, dass das Rechtsgefühl eines Volkes in unerträgliche Weise korrumpiert werden würde, wenn Morde ungesühnt bleiben müssten, obwohl sie gesühnt werden könnten. Ich habe hier unter vielen Briefen, die ich bekommen habe, den Brief […] eines Sozialinspektors aus Hamburg, der mit Jugendlichen, die gefährdet sind, straffällig zu werden, zusammenarbeitet. Er schreibt, dass ihn die Jungen, die Dummheiten gemacht haben und nun im Jugendgefängnis sitzen — sie streiten ihre Taten nicht ab, sie sagen, dass sie mit Recht im Jugendgefängnis sitzen, weil sie Dummheiten begangen haben —, fragen, wie es mit der Gerechtigkeit sein könne in einem Staat, in dem für Jungenstreiche jemand ins Gefängnis kommt und Leute, die Morde begangen haben, ungestraft herumspazieren. […]

Wenn ich sage: „Es wäre mir unerträglich, mit vielfachen Mördern zusammenzuleben“, dann ist es selbstverständlich, dass natürlich zuerst ermittelt werden muss, ob der bestimmte Beschuldigte wirklich der Mörder ist, und dass das Sache eines Strafverfahrens ist. Natürlich gilt im Zweifel zu seinen Gunsten […] das Prinzip, dass er nicht verurteilt werden kann, wenn wir ihn nicht der Schuld überführen können.

Es gibt Stimmen, auch von von mir sehr geachteten Kollegen meiner eigenen Fraktion […], die die Begriffe der Gnade und der Vergebung in die Diskussion einbringen. Dazu sind zunächst einmal nur die Opfer legitimiert, wir, glaube ich, nicht. Im Übrigen scheint es mir […] nicht möglich zu sein, auch vom Standpunkt eines Christen aus ohne Erkennen der Schuld von Gnade zu reden. […]

Ich komme zum Schluss mit einem anspruchsvollen Wort, das mir ein Kollege gesagt hat […]. Er hat mir gegenüber gemeint, man müsse um der Ehre der Nation willen mit diesen Prozessen Schluss machen. […] Ich stimme völlig denen zu, die sagen […], dass es natürlich ein Irrtum wäre, wenn wir meinten, wir könnten das, was in unserem Lande und unserem Volke geschehen ist, dadurch erledigen, dass wir stellvertretend, sozusagen symbolisch, einige ins Zuchthaus schicken und dann meinen, nun sind wir fein heraus. […] Aber ich bestehe darauf […] zu sagen, dass dieses deutsche Volk doch kein Volk von Mördern ist und dass es diesem Volke doch erlaubt sein muss, ja dass es um seiner selbst willen dessen bedarf, dass es mit diesen Mördern nicht identifiziert wird, sondern von diesen Mördern befreit wird, dass es, besser gesagt, deutlicher gesagt, sich selber von diesen Mördern befreien kann. […]

Das gehört für mich zur Ehre der Nation, dass der, wie ich weiß, unvollkommen bleibende, aber redliche Versuch unternommen wird, das zu tun, dass man von sich sagen kann: man hat das, was möglich ist, getan.

aus:  Deutscher Bundestag, Sitzung am 10. März 1965, S. 8519-8526.

 

Quelle 2 | CDU-Bundestagsabgeordneter Rainer Barzel (1924-2006)

Meine Damen, meine Herren, warum machen wir es uns so schwer? Ich will auch darüber einiges offen sagen. Einmal wissen wir alle, dass die Möglichkeiten irdischer Gerechtigkeit begrenzt sind. Justitia und Judicium [Gerechtigkeit und Gericht] sind nicht dasselbe. Es ist klar, dass das in der CDU/CSU seinen besonderen Rang hat, und das gilt vor allem, weil durch den zeitlichen Abstand die Gefahr einer unbefriedigenden Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden kann, ebensowenig wie die Gefahr einer Überforderung von Richtern und Zeugen. […]

Zum anderen haben viele von uns gerade wegen einer bösen Erfahrung Hemmungen gegenüber dem Problem besonderer Gesetzgebung. Wir haben eine peinliche Genauigkeit im Beachten der Normen, die rechtsstaatliches Denken gebietet, und eben dies wird dann gerade für diejenigen Kollegen zu einem unüberwindlichen Hemmnis, die […] dem Problem der Rückwirkung eine besondere Bedeutung beimessen. Gerade weil es Hitler gab — und nicht, um Verbrecher zu schützen —, gibt das bei manchem von uns den Ausschlag. Um es noch klarer zu sagen: Keiner von uns, der gegen Verlängerung ist, ist etwa für Verbrecher. […]

Freiheit oder Unfreiheit, das ist für den Menschen so existentiell wie Wärme oder Kälte, wie Sattsein oder Hunger. Wer immer in der Sonne lebt, kann die Bedingungen des Lebens in Schatten, Kälte und Schnee schwer beurteilen. Hunger kann nur ermessen, wer ihn gehabt hat, es kann ihn nicht ermessen, wer immer satt war.

Sie werden ahnen, dass ich das sage, um zu diesem Satz zu kommen: Wer nie in der Diktatur lebte, hat es schwer, sehr schwer, ihre Bedingungen auch nur zu erahnen. […] Wer nur die reine Luft des freiheitlichen Rechtsstaates kennt — und es ist ein Geschenk für die, die nur das kennen —, der wird leicht mit zu hartem, mit zu ungerechtem, zu lebensfremdem, zu wenig sachkundigem, ja zu grobem Maß die Lebensumstände, die Möglichkeiten und das Verhalten der Menschen in der Diktatur beurteilen.

Wir tun das Unsere, Schaden wiedergutzumachen, unsere freiheitliche Gesinnung glaubhaft darzutun, Verbrechen zu verfolgen und Schuld zu sühnen. Wir rechnen auch nicht auf, wiewohl vielen Deutschen Unrecht geschehen ist. Aber wer den Menschen kennt, weiß, dass der gute Wille, zumal der durch Taten bekundete, konstruktiver Antwort bedarf. Die Welt, in der wir leben, ist zu klein, die Freie Welt, für die wir endgültig optiert haben, ist zu gefährdet, als dass hier für Unversöhnlichkeit, als dass hier Raum wäre für Inseln des Hasses. […]

Erlauben Sie mir ein ganz persönliches Wort […]. Als Hitler kam, war ich acht Jahre alt. Ich war später Soldat und Offizier, und ich glaubte, im Dienst des Vaterlandes zu wirken. Ich kenne den Missbrauch des Idealismus der deutschen Jugend damals. Eben darum war ich bereit, diese Rede zu halten; denn ich glaube an Deutschland. Unser Land ist ein anderes geworden. Hier ist ein Ort der Humanität, der Freiheit, der Redlichkeit und des Rechts. Deshalb lohnt es sich, wie ich meine, ein Deutscher zu sein. […]

Unsere Geschichte umfasst mehr als zwölf böse Jahre. Unsere Gegenwart ist rechtlich und sie ist ehrenhaft. Die anstehende Frage, die nur unsere Frage ist, wollen wir beantworten aus Achtung vor uns selbst und aus dem Geist, der Deutschland seit langem auszeichnet, aus dem auch dieser Wiederaufbau und dieses neue gute Deutschland wieder möglich wurde.“

Quelle: Deutscher Bundestag. 170. Sitzung. Bonn, den 10. März 1965, S. 8531 f.

 

Quelle 3 | Bundesjustizminister Ewald Bucher (1914-1991), FDP

Die Gründe meiner Ablehnung einer Verlängerung durch ein rückwirkendes Gesetz wurzeln in Grundfragen des Rechts überhaupt. Wir müssen uns entscheiden, ob wir dem verständlichen Ruf nach lückenloser Sühne für die verabscheuungswürdigen Verbrechen der NS-Zeit folgen oder ob wir dem alten rechtsstaatlichen Satz treu bleiben wollen, dass jedes rückwirkende Gesetz auf dem Gebiete des Strafrechts von Übel ist.

Der materiellen Gerechtigkeit, also dem Bedürfnis nach Sühne [Vergeltung] den Vorrang einzuräumen, kann aber nur dann sinnvoll sein, wenn wir der Überzeugung sein dürften, dass die Verlängerung der geltenden Verjährungsfrist wirklich der Gerechtigkeit zu einem überzeugenden Sieg verhelfen würde. Gerade diese Überzeugung habe ich nicht.

Ich sehe mit Sorge, wie die NS-Verfahren alle Beteiligten, vor allem aber die Gerichte, vor immer unlösbarere Aufgaben stellen. Die Wahrheitssuche wird schon durch den zunehmenden Ausfall von Zeugen, aber auch durch das nachlassende Erinnerungsvermögen der Zeugen wie der Angeklagten immer schwieriger. Anklage wie Verteidigung sind in einem sonst unbekannten Ausmaß dadurch erschwert, dass wichtige Belastungs- und Entlastungszeugen nicht mehr auffindbar sind, nicht mehr bereit oder in der Lage sind, sich zu erinnern. […] [Die] geschilderten Schwierigkeiten werden in immer steigendem Maße dazu führen, dass Angeklagte freigesprochen werden, weil das Gericht die verbliebenen Beweise nicht für ausreichend hält, um sich von einer Mordschuld zu überzeugen.

Aus dieser Situation heraus kommt das ominöse [unheimliche] Wort: Wir müssen mit Mördern leben. Ein Wort eines Kollegen […], dem ich ungewollt zu Weltgeltung verholfen habe, aber beileibe nicht in dem fahrlässigen Sinne, der mir […] unterstellt wird, war, ich hätte einfach leichthin gesagt: Es macht doch nichts aus, mit einigen Mördern mehr oder weniger zu leben. Der Nachdruck lag vielmehr auf dem „müssen“; wir müssen es. […]

Können wir uns damit begnügen, einfach zu sagen: Das sind die Mörder, die jetzt hier auf der Anklagebank sitzen und dann verurteilt werden? […] Und nun überlege man sich: nun kam die Euthanasie, und das nächste Glied in der Kette ist ein Film, der damals lief, ein nicht nur raffiniert, sondern ein auch künstlerisch gemachter Film mit dem Titel „Ich klage an“. Dieser Film war eindeutige Propaganda dafür, dass lebensunwertes Leben doch besser vernichtet würde. Jetzt sitzen diejenigen, die sich an diesen Aktionen als ausführende Tabletten- oder Spritzengeber beteiligt haben, auf der Anklagebank, und wir sagen […]: Mit diesen Mördern oder Mörderinnen wollen wir nicht zusammenleben. Aber […] mit dem Herrn Regisseur, der heute noch existiert, unterhalten wir uns bei einem Cocktail in angenehmer Weise.

Ich bitte das Hohe Haus, mich richtig zu verstehen. Ich rede nicht denen das Wort, die überhaupt Schluss machen wollen mit diesen Verfahren. Ich gehe davon aus, dass die Gerichte sich den schweren Aufgaben stellen, die das geltende Recht ihnen vorschreibt. Ich will aber verhindern, dass ein die Verjährung verlängerndes Gesetz diese Belastungen der Gerichte noch vermehrt. Es ist meine Überzeugung, dass man dadurch, dass man den geltenden Gesetzen ihren Lauf lässt, letzten Endes auch der Gerechtigkeit am besten dient.

aus: Deutscher Bundestag, Sitzung am 10. März 1965, S. 8533ff.

 

Quelle 4 | SPD-Bundestagsabgeordneter Martin Hirsch (1913-1992)

Meine Fraktion hat sich bereits im Jahre 1960 sehr eindeutig mit dem Problem beschäftigt, als sie damals schon beantragte, die Verjährungsfrist für Totschlag zu ändern. Dieser unser Antrag ist abgelehnt worden. Wir haben uns aber auch im Laufe dieser Legislaturperiode mehrfach bemüht, das Problem in den Griff zu bekommen. Wir haben Kleine Anfragen aller Art gestellt; insbesondere wollten wir uns dadurch bemühen, sicherzustellen, dass bei Nazimorden wirklich alles verfügbare Material in dieser Welt sichergestellt würde. Wir haben Antworten bekommen, die uns nicht befriedigt haben. […]

Wir sind jetzt in Zeitdruck gekommen. Die Bundesregierung ist […] jetzt zu dem Schluss gekommen, dass keineswegs alle Fälle erschöpfend erfasst seien. […] Wir stehen jetzt vor der Situation, dass das Bundesjustizministerium mit seiner sorgfältigen Arbeit […] jetzt bekennen muss, es bleibe eine große Lücke offen. So können wir uns, wenn wir die Verjährungsfrist für Mord überhaupt verlängern wollen, heute einer Entscheidung in diesem Sinne gar nicht entziehen.

Geht es denn überhaupt, oder hat es Sinn, die Nazimorde weiter zu verfolgen? […] Auf jeden Fall finden auch nach dem 8. Mai Tausende von Verfahren statt. Das, was immer gesagt wird: es habe doch gar keinen Sinn, nach so viel Jahren noch Gerichtsverfahren durchzuführen, und es sei so schwierig, einen Täter noch zu überführen, das gilt für alle die tausend Verfahren, wo der Richter die Verjährung unterbrochen hat, genauso. […]

Wir müssen aber — bei allen Fehlerquellen, die auch die Justiz hat — ganz einfach Vertrauen in die Weisheit unserer Staatsanwaltschaften und auch unserer Gerichte haben. Wir müssen dabei in Kauf nehmen, dass es Verfahren geben wird — so der so —, in denen Anklage erhoben wird und in denen sich herausstellt, dass die Beweismittel für eine Verurteilung nicht ausreichen. Aber ein solcher Freispruch aus Mangel an Beweisen gegen Täter, bei denen man vielleicht das Gefühl hat, dass sie sehr wohl verurteilt worden wären, wenn sie früher angeklagt worden wären, ist etwas ganz anderes, als wenn ein Täter herumläuft, sich zu seiner Schuld bekennt und man gar nicht mehr gegen ihn vorgehen kann. […] Es wäre doch schrecklich, wenn ein solcher Mensch in der Welt herumlaufen und voll Stolz verkünden könnte, was er für Schandtaten begangen hat! Er würde unter Umständen sogar Anhänger dafür finden.

Ganz abgesehen davon, ist es auch gar nicht so absurd und abwegig, damit zu rechnen, dass ein solcher Mensch sich als Zeuge in einem Verfahren gegen einen Kollegen anbietet, um dann dort zu sagen: Der war es gar nicht, ich war es, woraufhin der andere freigesprochen werden müsste, und ihn müsste man laufen lassen, weil die Verjährungsfrist abgelaufen wäre. Meine Damen und Herren, es ist doch ein unerträgliches Gefühl, dass es zu derartigen Dingen kommen könnte. […]

[Ich] bin […] der Meinung, dass es im Interesse des deutschen Volkes und auch der überwiegenden Mehrheit derer liegt, die einmal Anhänger des Nationalsozialismus gewesen sind, wenn wir uns befreien von den Verbrechern, von den Mördern, und alles tun, um möglichst nicht mit den Mördern leben zu müssen.

aus: Deutscher Bundestag. 170. Sitzung. Bonn, den 10. März 1965, S. 8528 ff.

 

Quelle 5 | FDP-Bundestagsabgeordneter Thomas Dehler (1897-1967)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder von uns steht in der Qual seines Gewissens, unter dem Druck einer fürchterlichen Erbschaft dieser verbrecherischen nationalsozialistischen Zeit, die als Schuld und als Scham auf uns allen lastet, und unter der Verantwortung vor dem Recht, vor unserem Recht.

Müssen wir sagen, dass wir in der Abscheu vor dem Geschehenen mit der Welt einig sind? Fast meine ich, unsere Empörung ist größer, tiefer, peinigender. Am Ende sind wir uns doch der Schuld bewusst, jeder von uns, der damals Verantwortung getragen hat. […] Was können wir tun, um im Einklang mit dieser Stimmung, mit dem Willen der Welt zu sein? Sollen wir mit ihr hassen, verfluchen, Schuld und Sühne verewigen? Nein, wir können der Welt nur schlicht und fest unseren Willen zum Recht dartun. Ein Mehr gibt es nicht. Zum Recht, zu unserem Recht gehört auch, dass Schuld, dass jede Schuld verjährt.

Auch das gehört zu den Erfahrungen meines Lebens, dass der Mangel an Recht, der Mangel an Rechtsstaatlichkeit Schaden bringt. Der Weg zum Staat des Unrechts ist dadurch gebahnt worden, dass der Wille zur unbedingten Rechtsstaatlichkeit nicht lebendig genug war. […] Der rechtsstaatliche Gleichheitsgrundsatz und das Verbot der Willkür schließen jedes Ausnahmegesetz aus, jede Regelung, die sich gegen einen bestimmten Personenkreis wenden will oder aus einem bestimmten Anlass heraus die Rechtsfolgen für einen bereits abgeschlossenen Tatbestand ändern will. An diesem Grundsatz scheitert der Versuch, die Verjährungsfrist für den Mord der nationalsozialistischen Zeit, für die Beihilfe hierzu, für den Versuch des Mordes mit rückwirkender Kraft zu ändern. Das ist die entscheidende Frage.

Diese Frage, ob es zulässig ist, nachträglich mit Rückwirkung für die Vergangenheit die Verjährungsfristen zu ändern, zu verlängern, also die in den Gesetzen getroffene Regelung zu variieren, ist eine Rechtsfrage und nur eine Rechtsfrage, das ist keine politische Frage. […]

Die Verjährung hat einen tiefen rechtspolitischen Sinn, auch bei Straftaten, die wir hier im Auge haben. Die Verjährung verzichtet der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens wegen auf die letzte Gerechtigkeit. Ich brauche Ihnen das nicht im Einzelnen zu sagen. Mit dem Zeitablauf steigen die Beweisschwierigkeiten für die belastenden und auch für die entlastenden Tatsachen. Die Erinnerung der Zeugen wird unscharf. Und bedenken wir doch: Gerade in unserer Zeit so rascher und so tiefgreifender geschichtlicher Wandlungen […] wird es für die Richter, besonders für die Laienrichter, immer schwerer, sich in die Umwelt der Zeit der Tat zu versetzen. […]

Das Verlangen der Allgemeinheit nach Bestrafung klingt mit der Zeit ab; in unserem Falle ist diese Frage besonders schwierig, ich will noch ein Wort darüber sagen. In der langen Zeit, die seit dem Begehen einer Straftat verstrichen ist — jetzt können es schon 32 Jahre sein —, ist die Persönlichkeit des Täters eine andere geworden, sie hat sich gewandelt. Es ist zu fragen: Was hat ein Beschuldigter heute noch mit der Tat zu tun, die vor 25 Jahren unter ganz exzeptionellen Verhältnissen geschehen ist, — damals vielleicht ein verhältnismäßig junger Mann, der jetzt ein gereifter Mann geworden ist? […]

Ist die Tatsache nicht bewegend, dass die meisten von denen, die jetzt schwerster Verbrechen beschuldigt werden, vor jener Zeit unauffällige Menschen waren und dass sie nach jener Zeit wieder als Bürger ordentlich gelebt haben? Ich will einmal von denen absehen, bei denen schauerlicher Sadismus in jener Zeit lebendig geworden ist. Es ist so billig, zu sagen, das seien menschliche Bestien.

Quelle: Deutscher Bundestag. 170. Sitzung. Bonn, den 10. März 1965, S. 8541 ff.