Die Darstellungstexte gehören zum Modul Versailler Vertrag
Darstellungstext 1 | Auszug aus: Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte, München 1996, S. 166
Hagen Schulze (1943-2014) war ein deutscher Historiker. Sein Arbeitsschwerpunkt war die Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert.
Bei aller Schwere waren es doch nicht so sehr die materiellen Folgen des Versailler Vertrags, die das weitere Schicksal der Republik beeinflussten, als vielmehr das in Deutschland vorherrschende Gefühl, einem ungerechten Gewaltakt wehrlos ausgeliefert zu sein. […] Anstatt das Deutsche Reich entweder, wie dies die französische Generalität forderte, erneut in eine Vielzahl deutscher Kleinstaaten aufzulösen oder aber die neuerstandene deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, ohne Wenn und Aber in den Kreis der westlichen Staaten aufzunehmen, hatte man sich zu einem zerstörerischen Mittelweg entschlossen. Mit dem Vertrag von Versailles wurde Deutschland unter Sonderrecht gestellt. militärisch entmachtet, wirtschaftlich ruiniert und politisch gedemütigt. Aus dem deutschen Blickwinkel erschien das „Diktat von Versailles“ , wie man damals sagte, als Instrument westlicher Willkür. Die europäische Friedensordnung von 1919 schien ebenso unannehmbar wie die Demokratie, die innenpolitische Ordnung der Siegermächte, die aufgrund des Kriegsausgangs auch die des geschlagenen Deutschland geworden war. Das war der entscheidende Grund dafür, dass für die meisten Deutschen der Kampf gegen den Versailler Vertrag, gegen die europäische Friedensordnung gegen die Demokratie ein und dasselbe bedeutete. Wer von nun an in der politischen Arena zur Mäßigung und zum vernünftigen Ausgleich mit den Kriegsgegnern mahnte, war von vornherein mit dem Makel der Schwäche, wenn nicht des Verrats behaftet. Das war der Humus, auf dem schließlich das totalitäre und aggressive Regime Hitlers wachsen konnte.
Darstellungstext 2 | Auszug aus: Heinrich August Winkler: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1998, S. 97f.
Heinrich August Winkler (geb. 1938) ist ein deutscher Historiker. Sein Schwerpunkt ist ebenfalls die Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert.
Deutschland fühlte sich durch den Vertrag von Versailles auf den Platz einer Nation zweiten Ranges zurückgeworfen. Vom Völkerbund war es fürs Erste ausgesperrt; seine Souveränität war drastisch eingeschränkt, sein Territorium geschrumpft, seine Wirtschaftskraft geschwächt, sein militärisches Potential nur noch ein schwacher Abglanz dessen, was der Hohenzollernstaat einst besessen hatte. Aber das Reich bestand fort; es war immer noch das bevölkerungsreichste Land westlich der russischen Grenzen und die wirtschaftlich stärkste Macht Europas.
Auch außenpolitisch war Deutschlands Lage keineswegs hoffnungslos. […] Deutschlands Aussichten, wieder zu einer europäischen Großmacht aufzusteigen, waren durch den Vertrag von Versailles keineswegs zerstört worden.
Innenpolitisch wurde „Versailles“ alsbald zu einer Waffe der Rechten. […] Aus der Abwehr der falschen These, Deutschland sei allein schuld am Weltkrieg, erwuchs binnen kurzem eine deutsche Kriegsunschuldlegende. Sie trug kaum weniger als ihre Zwillingsschwester, die Dolchstoßlegende, dazu bei, jenes nationalistische Klima zu erzeugen, in dem sich das politische Leben der Weimarer Republik entwickelte.