Geschichte des Fahrrads | Quellenpaket B

Die Quellen gehören zum Modul Geschichte des Fahrrads

 

Konkurrenz auf den Straßen 

Bildquelle | Die Schule ist aus! (Zukunftsbild), in: [ohne Verfasser]: O diese Radler. Ein lustiges Handbuch für alle Radfahrer und Nichtradfahrer, München [ca. 1900] | Public Domain, SLUB (Sächsische Landesbibliothek): Bild anklicken

 

 

Quelle 1 | Adolf W. Best: Best’s practisches Handbuch für Radfahrer und solche, die es werden wollen, Stettin 1895| Public Domain, Universitätsbibliothek Kiel, Faksimile, Bild anklicken). Einige Begriffe werden in eckigen Klammern erläutert.

Gegen das Publicum [Fußgänger] betrage der Radfahrer sich stets höflich und bescheiden. Man halte vor allen Dingen auf der Fahrt die Augen offen und suche möglichst jedem Passanten auszuweichen, ohne übermässigen Gebrauch von der Glocke zu machen; der geschickte Fahrer ist in den meisten Fällen dazu in der Lage. In grösseren Städten, wo viel Verkehr ist, muss ab und zu die Glocke gebraucht werden. Man mache aber niemals mit der Glocke zu viel Spectakel, das ist durchaus nicht fein. Gehen z. B. Damen in kurzer Entfernung vor dem Radfahrer über den Weg, so würde derselbe durch plötzliches starkes Läuten dieselben eben so erschrecken, als wenn er lautlos an denselben vorüberfährt. Hier gebietet der Anstand, dass man die Damen in keiner Weise erschreckt, und das erreicht man dadurch, dass man sich durch schon von weitem gegebenes wiederholtes mässiges Klingeln avisirt [ankündigt]. Diese mässigen Glockenzeichen sind, wenn überhaupt geklingelt werden muss , die besten. Wenn es natürlich nicht anders geht, kann man auch einmal von dieser Regel abgehen. Hat der Radfahrer Augen und Ohren offen und ist hübsch höflich und etwas politisch [diplomatisch] dabei, so kommt er auch nicht so leicht in Streit mit dem Publicum. Man kann meistens auf der Tour schon etwaiges feindliches Verhalten entgegenkommender Passanten wahrnehmen. Hier muss man die Taktik verfolgen, so lange natürlich wörtliche oder thätliche Angriffe noch nicht erfolgt sind und man nur aus den Geberden [Verhalten] der Betreffenden Feindseligkeiten wahrzunehmen glaubt, denselben einfach im Vorbeifahren höflich einen Gruss zuzurufen; die Leute sind dann meistens, wenn sie auch Böses im Schilde führten, verdutzt, erwidern den Gruss und der Radler ist wie der Blitz an ihnen vorüber, ehe sie sich recht besinnen können.

Keineswegs jedoch soll dabei der echte deutsche Radler feige sein. Hat man es mit wirklichen Rowdies zu thun, welche uns durchaus nicht in Ruhe lassen wollen, dann gehe man energisch vor. Durch sofortiges energisches Auftreten imponirt man Leuten dieser Art am besten. Wenn es jedoch irgend sein kann, vermeide man jedes Rencontre [Zusammentreffen].

 

Quelle 2 | Hermann Ortloff: Das Radfahren im öffentlichen Verkehr, Jena 1899, S. 1f. und  11ff. | Public Domain, SLUB (Sächsische Landesbibliothek) Faksimile, Bild anklicken)

Die fortschreitende Entwickelung der Technik hat in den Fahrrädern und Automobilen Transportmittel von unschätzbarem Werte geschaffen. […]

In dieser liegt neben dem grossen Gewinn an Raumüberwindung mit Zeit- und Kraftersparnis der Fahrer leider auch die Ursache von zahlreichen und empfindlichen Störungen des Strassenverkehrs, von Gefährdungen von Personen und Sachen und der mit dem raschen Zunehmen des Fahrradgebrauchs wachsenden Häufung von Unglücksfällen. Dazu kommt, dass sich im Radfahrertum zu einem Teile ein gewisser sozialistischer, fast revolutionärer Geist erkennbar macht, indem ein grosser Teil der Fahrer nach einer gewaltsamen, physischen Vorherrschaft im öffentlichen Verkehr, entgegen dessen naturgemäss und gesetzlich gegebener Ordnung strebt, sich in gemeinsamen Anschauungen vom einem Recht des Überlegenen konsolidiert und in Vereinen organisiert hat, um sich gegen eine, wenn auch durch die allgemeine Verkehrssicherung gebotene, ihnen unbequeme Beschränkung der Bewegungsfreiheit zu schützen. Unverhohlen erwartet das organisierte Radfahrertum nach dem Aussterben der jetzigen Generation den „vollen Sieg seiner Bewegungsfreiheit“ im öffentlichen Verkehr. Die Zahl der im Deutschen Reiche im Gebrauch befindlichen Fahrräder wird bereits auf über drei Millionen geschätzt.

Dieser Klasse [der Klasse der Berufspendler] steht gegenüber die der Sportfahrer, denen das Rad nicht als notwendiges oder nützliches Mittel zur leichteren Berufs- und Arbeitsleistung , sondern zum Wohlbefinden, zur Erholung, zur Unterhaltung, zum nervenkitzelnden Vergnügen dient — oft nur als ein vornehmes Spielzeug und Parademittel. […]

Diese Fahrer sind es, unter denen sich die Rücksichtslosen und Feigen zu befinden pflegen, welche, wenn sie ein Unheil angerichtet oder die Fahrregeln missachtet haben, sich durch die Flucht einer sie treffenden Verantwortlichkeit entziehen. Dieser sind die Berufsfahrer schon vermöge des Bewusstseins ihres mit dem Rade zu verfolgenden Zweckes weit weniger ausgesetzt: sie fahren meist gemässigt und vorsichtig, ohne sich über die Grenzen der Achtung des Wohles der im Verkehr sich Bewegenden hinwegzusetzen; es tritt nicht das bei so vielen Sportfahrern bemerkbare Streben, den Strassenverkehr beherrschen zu wollen, hervor, mit dem Hintergedanken, unerreichbar werden zu können, wenn sie aus Unvorsichtig- oder Rücksichtslosigkeit einen Schaden an Personen oder Sachen anrichten. Das sind die eigentlichen  Feinde des Strassenverkehrs in den Ortschaften, aber auch eines verständigen auf Ordnung und Sicherheit bedachten Radfahrertums, weil sich leicht gegen dieses im Allgemeinen die Abneigung des Publikums zu wenden pflegt, was es nicht verdient. Das sind die Fahrer, welche der Engländer als Scorchers oder Rowdies, der Franzose als Pédards bezeichnet, denen die meisten Unglücksfälle und Übertretungen der ersten Sicherungsregeln zur Last fallen.