Der ideale Mann – die ideale Frau | Quellen

 

Die Quellen gehören zum Modul Der ideale Mann – die ideale Frau | Rollenbilder

 

Quelle 1 | Brief von Plinius dem Jüngeren an seinen Freund Iunius Mauricus

 

Du bittest mich, nach einem Gatten für die Tochter Deines Bruders Umschau zu halten, und Du tust recht daran, gerade mich damit zu betrauen. […] Da hätte man freilich lange suchen müssen, wenn nicht Minicius Acilianus bereitstände und gleichsam dazu prädestiniert wäre. Als Altersgenossen verbindet ihn herzliche Freundschaft mit mir […]. Er stammt aus Brixia, jener Gegend unsres lieben Italiens, die bis auf den heutigen Tag ein Gutteil alter Sittsamkeit, Biederkeit und ländlicher Einfachheit behalten hat und weiter bewahrt. Sein Vater Minicius Macrinus ist der erste Mann im Ritterstande […]. Seine Großmutter mütterlicherseits, Serrana Procula, stammt aus der Landstadt Patavium. Du kennst die Lebensart dieses Ortes, doch Serrana gilt selbst den Patavinern als ein Muster der Sittenstrenge. In P. Acilius besitzt er auch einen Oheim von nahezu einzigartiger Charakterfestigkeit, Klugheit und Zuverlässigkeit. Kurz gesagt: in der ganzen Familie wirst Du nichts finden, was Dir nicht wie in Deiner eigenen gefiele.

Acilianus selbst ist ein überaus regsamer, energischer und dabei doch völlig anspruchsloser Mann. Quästur, Tribunat und Prätur hat er in allen Ehren durchlaufen und es Dir somit erspart, Dich für ihn verwenden zu müssen. Er besitzt ein offenes Gesicht, stark durchblutet, tiefrote Wangen, natürliche Schönheit in seiner ganzen Erscheinung und gewissermaßen senatorischen Anstand. Das alles sind Eigenschaften, die man doch keinesfalls unbeachtet lassen sollte; die Mädchen verdienen sie als eine Art Belohnung für ihre Sittsamkeit. Ich weiß nicht, ob ich noch bemerken muss, dass sein Vater ein sehr vermögender Mann ist.

Plinius der Jüngere: Ep. 1, 14, zitiert nach Helmut Kasten (Hg): Plinius der Jüngere. Briefe, Düsseldorf u. a. 2003, S. 39-41.

Petis ut fratris tui filiae prospiciam maritum; quod merito mihi potissimum iniungis. […] Qui quidem diu quaerendus fuisset, nisi paratus et quasi provisus esset Minicius Acilianus, qui me ut iuvenis iuvenem – est enim minor pauculis annis – familiarissime diligit, reveretur ut senem. […] Patria est ei Brixia, ex illa nostra Italia quae multum adhuc verecundiae frugalitatis, atque etiam rusticitatis antiquae, retinet ac servat.  Pater Minicius Macrinus, equestris ordinis princeps […]. Habet aviam maternam Serranam Proculam e municipio Patavio. Nosti loci mores: Serrana tamen Patavinis quoque severitatis exemplum est. Contigit et avunculus ei P. Acilius gravitate prudentia fide prope singulari. In summa nihil erit in domo tota, quod non tibi tamquam in tua placeat.

Aciliano vero ipsi plurimum vigoris industriae, quamquam in maxima verecundia. Quaesturam tribunatum praeturam honestissime percucurrit, ac iam pro se tibi necessitatem ambiendi remisit.  Est illi facies liberalis, multo sanguine multo rubore suffusa, est ingenua totius corporis pulchritudo et quidam senatorius decor. Quae ego nequaquam arbitror neglegenda; debet enim hoc castitati puellarum quasi praemium dari. Nescio an adiciam esse patri eius amplas facultates.

Gaius Plinius Caecilius Secundus: Ep. 4, 19 (Wikisource)

 

 

Quelle 2 | Brief von Plinius dem Jüngeren an seine Tante Calpurnia Hispulla

 

Da Du ein Muster von Anhänglichkeit bist und Deinen trefflichen, Dir herzlich verbundenen Bruder mit gleicher Zuneigung umfangen hast, da Du seine Tochter wie Deine eigene liebst und ihr nicht nur die Gefühle einer Tante entgegenbringst, sondern ihr geradezu den verlorenen Vater ersetzt, wirst Du zweifellos mit besonderer Freude hören, daß sie sich ihres Vaters, Deiner selbst und ihres Großvaters würdig erweist. Sie hat viel Verstand, ist äußerst anspruchslos; sie liebt mich, das beste Zeichen ihrer Unverdorbenheit.

Dazu kommt ihr Interesse für Literatur, das sie aus Liebe zu mir gefasst hat. Sie nimmt meine Bücher zur Hand, liest sie aufmerksam, lernt sie sogar auswendig. Welche Aufregung, wenn sie sieht, dass ich plädieren muss, welche Freude, wenn ich es hinter mir habe! Sie stellt Posten aus, die ihr melden müssen, ob ich Zustimmung, ob ich Beifall gefunden habe, welchen Ausgang des Prozesses ich heimbringe. Ebenso sitzt sie, wenn ich einmal rezitiere, ganz in meiner Nähe, durch einen Vorhang von mir getrennt, und lauscht mit gierigen Ohren den mir gespendeten Komplimenten. Sie vertont auch meine Lieder, ohne Unterweisung durch einen Musiker, einfach aus Liebe, die doch die beste Lehrmeisterin ist.

Aus all diesen Gründen hoffe ich zuversichtlich, dass unser Einvernehmen ewig dauern und von Tag zu Tag inniger sein wird. Denn nicht meine Jugend, meine leibliche Erscheinung bindet sie an mich – das alles altert und vergeht – , sondern mein Ruhm.

Plinius der Jüngere: Ep. 4, 19, zitiert nach Helmut Kasten (Hrsg): Plinius der Jüngere. Briefe, Düsseldorf u. a. 2003, S. 229-231.

Cum sis pietatis exemplum, fratremque optimum et amantissimum tui pari caritate dilexeris, filiamque eius ut tuam diligas, nec tantum amitae ei affectum verum etiam patris amissi repraesentes, non dubito maximo tibi gaudio fore cum cognoveris dignam patre dignam te dignam avo evadere. Summum est acumen summa frugalitas; amat me, quod castitatis indicium est.

Accedit his studium litterarum, quod ex mei caritate concepit. Meos libellos habet lectitat ediscit etiam. Qua illa sollicitudine cum videor acturus, quanto cum egi gaudio afficitur! Disponit qui nuntient sibi quem assensum quos clamores excitarim, quem eventum iudicii tulerim. Eadem, si quando recito, in proximo discreta velo sedet, laudesque nostras avidissimis auribus excipit.  Versus quidem meos cantat etiam formatque cithara non artifice aliquo docente, sed amore qui magister est optimus.

His ex causis in spem certissimam adducor, perpetuam nobis maioremque in dies futuram esse concordiam. Non enim aetatem meam aut corpus, quae paulatim occidunt ac senescunt, sed gloriam diligit.

Gaius Plinius Caecilius Secundus: Ep. 4, 19 (Wikisource)